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Nicht der Weg, der Schritt ist das Ziel.

Ich liebe ja Redewendungen. 

 

Und mache mir als kreativer Buchstabendrechsler gerne ab und zu auch mal einen Spaß draus, diese klugen Sprüche durch den Mixer zu drehen. Und mir dann so meine Gedanken zu machen. „Der frühe Vogel hängt am seidenen Faden.“„Auf Wolke sieben sitzt man am längeren Hebel.“ „Auch ein blindes Huhn streut sich mal Asche auf’s Haupt.“ „Wer den Pfennig nicht ehrt, kocht auch nur mit Wasser.“ Oder meinetwegen: tanzt anderen auf der Nase herum. Denn: „Wer A sagt, fängt den Wurm!“

 

Manchmal kommt da wirklich bemerkenswerter Stuss heraus. Aber, um ehrlich zu sein: Das ist eigentlich fast selten. Meistens klingt das, was man da aus seiner Sprüche-Mühle holt, doch irgendwie nützlich. Zumindest nicht dümmer als andere Management-Weisheiten, mit denen man heute viel Geld verdienen kann. Klar sitzt man zum Beispiel auf Wolke sieben am längeren Hebel, weil einem in diesem Seelenzustand irgendwie alles leicht fällt. Außer vielleicht für vier Monate in ein Mega-Funkloch irgendwo in Ost-Australien zu müssen, während die frisch Angebetete (m/w/d) zu Hause bleibt. 

 

Aber selbst daraus kann man was machen. Etwa so: „Auf Wolke Sieben gibt es keine Siebenmeilenstiefel.“ Klingt doch auch toll, oder? Ergibt sofort Sinn. Treibt man das auf die Spitze, kann man mit derartigen Schöpfungen ganze Nachmittage wie in einem Lachgas-Rausch verbringen. Und um einige verschraubte Gedankengänge reicher ins Bett gehen. 

 

Und soll keiner sagen, das wäre kindischer Unsinn: In Schreibkursen bekommt man auf ähnliche Weise beigebracht, sich tiefsinnige Wortkombinationen für noch viel tiefsinnigere Gedichte auszudenken. So entstehen aus entsprechend beschrifteten Papierschnipseln Dinge wie „Brunnen-Stimme“ oder „Gedanken-Berge“. Da hört man doch sofort die ersten beiden Absätze aus „Dracula“ durch ein nebliges Gebirge hauchen, Vollmond inklusive. Lyrik aus dem Lostopf – wobei ich mich manchmal durchaus frage, ob mit dieser Methode nicht vielleicht doch schon der eine oder andere Literaturpreis abgeräumt wurde. Vielleicht ein Geschäftsmodell? Mit KI könnte man das sogar skalieren!

 

Wobei das mit den erwürfelten Preisen eigentlich kein Problem wäre, schließlich ist es ja immer noch der Künstler, der allzu schräge Kombinationen wie etwa … sagen wir: Astral-Geige oder Mus-Schuh zurück in den Topf wirft und nur behält, was ihm gefällt. Manchmal besteht die Kunst eben im Auswählen.

 

Selbst Mozart himself hat sich einmal ein System ausgedacht, das ihm half, mit Würfelhilfe zu neuen Melodien zu kommen. Gut, die waren im Vergleich zu dem, was ihm von selbst so einfiel, wenn er auf Wolke sieben war, etwa das, was eine Nebelkrähe neben einer Nachtigall ist, aber immerhin. Später kann man ja immer noch die eine oder andere Note gegen eine besser geeignete austauschen – und schon hat man eine Arie, die ansonsten eher steife Opernbesucher schluchzend in die Arme ihrer Sitznachbarn fallen lässt.

 

Nun: Einer meiner liebsten Redewendungen ist die mit dem Weg und dem Ziel. Kennen Sie bestimmt. Als ich den neulich in meinen Sprüche-Würfelbecher geworfen hatte, dachte ich mir: Moment! Muss ich gar nicht. Denn ich hatte das Gefühl, dass der Spruch an sich schon schräg genug ist. „Der Weg ist das Ziel!“: Gut, das sagt man, wenn man damit zum Ausdruck bringen will, dass einem das Ziel eigentlich scheißegal ist – und man sich deshalb verdammt cool fühlt. 

 

Aber manchmal, seien wir ehrlich, zitieren den eben auch Leute, die ihren Kompass vergessen oder ihr Ziel gleich insgesamt aus den Augen verloren haben, die zwei Kilometer vor dem Marathon-Siegertreppchen mangels rechtzeitiger Flüssigkeitszufuhr einen Wadenkrampf erleben oder denen sonstwie aufgefallen ist, dass sie bei der Ermittlung ihrer Zielkoordinaten vielleicht besser mal einen Fachmann gefragt hätten. Ziel außer Sicht? Äh … egal.

 

Nun könnte man als Teil einer ihres Zieles beraubten Karawane fragen: Wenn jetzt der Weg das Ziel ist – warum quälen wir uns überhaupt voran? Dann könnte man ja auch gleich jetzt schon Käse, Rotwein und Salamistückchen aus dem Rucksack holen, bleiben, wo man ist und einfach sich und das Leben feiern. Bis alles alle ist und man sich eben die nächste Hotelbar zum Ziel erwählt.

 

Jedenfalls: Seither glaube ich tatsächlich, dass auch Redewendungen altern. Heute, wo nun wirklich alles in Bewegung ist, müsste es eigentlich heißen: Nicht der Weg, der Schritt ist das Ziel.

 

Der erste Schritt raus aus dem Hamsterrad zum Beispiel. Der erste Schritt in Richtung eines neuen Geschäftsmodells. Der erste Schritt irgendwohin – wenn man denn gemerkt hat, dass man da, wo man ist, einfach nicht weiter kommt. Der erste Schritt raus aus der Komfortzone (ich hasse dieses Wort eigentlich, das riecht wie ein längst totgerittenes Pferd, das man an die große Glocke gehängt hat).

 

Gehen wir also den Tatsachen auf den Keks: Schon seit Jahren lässt sich kaum noch etwas planen. Man entwickelt ein supergeniales, ultraslickes neues Klapphandy – und plötzlich kommt das iPhone. Man zerbricht sich den Kopf über neue, ultracleane Musik-Datenträger. Und dann laden sich die Kids lieber minderwertige MP3-Dateien werweißwo runter und hauen damit nebenbei die ganze Industrie in Schutt. Man ist endlich Virologe geworden – und dann kommt Corona und alle wissen alles besser. Oder wie wäre es mit Elektrorollern, um die letzte Meile zu entlasten? Und dann werden die Leute darauf reihenweise totgefahren oder fahren andere tot. Und, leider auch sehr beliebt: „Nach Corona starten wir durch!“ – und dann erhebt der Putin seine hässliche Fratze. 

 

Der große, aber leider an der Realität verzweifelte Kabarettist Volker Pispers hat es mal so gesagt: Wer hätte vor 30 Jahren gewusst, was Lettland ist? „Legoland vielleicht. Aber Lettland?“ Das Leben ist einfach zu schnell geworden für Pläne – über die sich, wie schon John Lennon feststellte, ohnehin nur der liebe Gott kaputtlacht. Ziele? Sind inzwischen was fürs Poesiealbum. Oder Businesspläne. Was ja oft auf dasselbe hinausläuft.

 

Was heute zählt, ist nicht mehr der Weg, sondern der Schritt. Überhaupt noch einen Schritt zu machen, ohne sich von all dem Mist, der um uns herum passiert, wie gelähmt zu fühlen. Hauptsache: in Bewegung bleiben. Oder, jetzt mal ganz anders ausgedrückt: Raus aus dem Nähkästchen und dem Eingemachten auf den Zahn fühlen. Oder so. 

 

Das Ziel findet sich dann schon. Es wird nach uns suchen.