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Künstler brauchen keine Lehrbücher

Sagen wir es gleich offen: Für diesen Spruch habe ich bereits Prügel eingesteckt. Meine Freundin, ebenfalls als bildende Künstlerin unterwegs, war nämlich trotz meines Geistesblitzes der Ansicht, dass Lehrbücher durchaus auch für Künstler eine feine Sache sind. Weil man dann sieht, wie man manche Sachen machen muss. Das spare Zeit und bringe einen auf Ideen.

 

Da hat sie natürlich recht. Und da sie mein Bücherregal gut kennt, musste ich mit donnerndem Erschrecken auch gleich zugeben, dass ich tatsächlich ein, zwei Kunst-Lehrbücher in meinen Billies stehen habe. Eines davon über den kreativen Umgang mit: Rost. 

 

Sagen wir mal so: Ich bin da nicht stolz drauf. OK: Ich fand die vielen Arbeiten, die darin vorgestellt wurden, ganz nett. Das Buch insgesamt aber eher langweilig. Ich erkläre gleich, warum.

 

Im Prinzip können Bücher über Rost, gerade durch die Augen eines Chemikers gesehen, ja durchaus eine feine Sache sein: Letztlich ist das Zeug ja ein halber Kosmos aus chemischen Verbindungen, denen eigentlich nur ihre Zusammensetzung aus Eisen, Sauer- und hier und da einer Prise Wasserstoff gemein ist. Chemie-Lehrbücher drücken das so aus: x FeIIO . y FeIII2O3. z H2O.

 

Wobei ich fürchte, jetzt gerade 80% meiner Leser verloren zu haben. Für die anderen, die geblieben sind: Ja, diese Formel ist auch für unsereins ähnlich griffig wie Waldfrucht-Marmelade. Ich habe für eine meiner eigenen Arbeiten mal versucht, einen chemischen Kollegen über die Bildung von „Kupfer-Rost“ auszuquetschen – das ist im Prinzip dieses blaue Zeug auf Kirchendächern. Er schlug – zumindest virtuell – die Hände über dem Kopf zusammen. Ich glaube, er ist danach in ein Land ausgewandert, in denen man Dächer mit Stroh deckt. 

 

 

Marslandschaft im Schlafzimmer

 

Aber ich gebe zu, dass Rost einen auch aus kreativer Sicht schon eine Weile beschäftigen kann. Als ich mich das erste Mal künstlerisch damit befasst hatte, konnte ich es kaum erwarten, morgens aus dem Bett zu steigen und zu sehen, was meine persönliche Rost-Macher-Mischung: Kochsalz, Haar-Bleichmittel und Sushi-Essig in geheimer (das heißt: nie dokumentierter) Zusammensetzung, über Nacht mit dem ihr anvertrauten Eisenpulver angestellt hatte. Das hatte ich vorher auf Kartonplättchen geklebt.

 

Das Ergebnis war die Landkarte einer Marslandschaft, da glich kein Quadratmillimeter dem anderen. Und wenn man vor dem Einschlafen noch ein paar schön bunte Pigmente in die Rost-Macher-Lösung streut, entstehen daraus im Handumdrehen kleine Kunstwerke, für die, wie ich überrascht, aber befriedigt feststellen durfte, Leute sogar Geld auszugeben bereit sind.

 

Aber warum eigentlich? Nun, der Grund dafür ist derselbe, der Rost auch aus einem höheren, sagen wir: touristischem Blickwinkel interessant macht. Auf eine flammneue Lokomotive frisch aus der Fabrik fahren eigentlich nur Ingenieure, Train-Spotter oder Bahn-Großeinkäufer ab. Für die allermeisten anderen ist das dagegen nur das Ding, das einen Zug hoffentlich irgendwie pünktlich nach München zieht. 

 

 

Rost macht schön!

 

Aber ein halbverrostetes Exemplar, von Efeu überwachsen irgendwo im Wald neben einem aufgelassenen Zechengelände in Bottrop-Süd, das zieht die Wurst vom Brot, da toben Kinder drin, da zücken Erwachsene Kamerasysteme, die man überhaupt nur mit mindestens zwei Sherpas an Ort und Stelle kriegt. Aus diesem Grund würde auch niemand auf die Idee kommen, verrostete Weltkulturerbestätten auf Hochglanz zu polieren. Das wäre, als müsse man sich einen Stan und Ollie-Film in Farbe und 3D ansehen. In Ultra-HD und mit digitalen Spezialeffekten. Und Filmmusik aus dem Modular-Synthesizer.

 

Und hier der oben versprochene Grund: Was nicht rastet, rostet. Wird aber auch schöner. Weil: Wenn etwas rostet, sehen wir der Natur bei ihrer Arbeit zu. Ein halbverrostetes Stahlwerk ist mindestens so spannend wie ein halbverfallener Inka-Tempel, in dem seit Jahrhunderten Wurzeln unaussprechlicher Baumgattungen herumwühlen.

 

ABER und TROTZDEM: Bücher über die kreative Anwendung von diversen Eisenoxiden? Das ist in etwa so wie eine Anleitung zum effektiven Kleinhäckseln von Ikea-Möbeln. Wenn Sie sich damit wirklich auseinandersetzen, bekommen Sie auch so raus, wie man das optimiert. Der wahre Künstler sieht Rost und denkt sich: Geil, das wäre doch eine gute Idee, da vielleicht was draus zu machen. Dann experimentiert er. Und wenn er dran bleibt, hat er nach ein paar Monaten (oder auch Jahren) herausgefunden, wie das Material tickt, was er ihm zumuten kann und was nicht und welche Ideen er damit ausdrücken kann und welche nicht. Und zwar auf seine Weise. Weil er sich das Material selbst erschlossen hat. Lehrbücher sind da eher sowas wie ein Ford Mustang in der Garage für jemanden ohne Führerschein. 

 

 

Noch genauer hingucken!

 

Es ist ja so: Die wirklich großen Künstler vergangener Jahrhunderte, also durchaus auch in Zeiten, in denen es schon Bücher gab, die kamen alle ohne gedruckte künstlerische Anleitungen aus. Gut, die haben zum Teil Frau und Familie zurückgelassen und über hunderte Kilometer Fußmarsch grauenhafte Entbehrungen auf sich genommen, um sich am Ziel die Arbeit eines ebenfalls bildnerisch tätigen Kollegen, den es an den Hof irgendeines Provinzfürsten verschlagen hatte, anzusehen. Um davon zu lernen und es dann im Idealfall besser zu machen. Zum Beispiel einen besseren Faltenwurf, eine coolere Ausleuchtung hinzukriegen oder noch schäbigere Modelle aufzutreiben. Und klar, man ging dann durchaus auch in die Lehre bei Leuten, denen man zutraute, auf der Höhe der Zeit zu sein.

 

Aber: Man kaufte sich eben kein Lehrbuch über die schicken Faltenwürfe eines Herrn Tizian. Sondern versuchte einfach, vielleicht noch genauer hinzusehen als er. 

 

 

#farbesohingemachtimsuff

 

Später, als es nicht mehr so darauf ankam, einen Fürsten oder wenigstens den Malerkollegen, mit dem man sein Zimmer unter dem Dachboden teilte, möglichst naturnah auf Leinwand zu bekommen, ging man erst einmal ordentlich zechen, schleppte sich dann spät nachts ins Atelier und klatschte noch schnell Farbe auf die Leinwand. Mit den so gewonnenen Bildern wurde dann der arme Wirt bezahlt, der nahm, was er kriegen konnte. Übrigens gibt es heute noch den Instagram-Hashtag #farbesohingemachtimsuff. Manche Dinge ändern sich nie.

 

Als Maler muss man ja irgendwie weitermachen. Und kein wahrer Künstler will das machen, was der Lehrer macht, auch wenn der Jahrzehnte gebraucht hat, sich im Greisenalter Werke mit einer gewissen Schaffenshöhe abzuringen – und man also auf hohem Level einsteigen könnte. Da klatschte man dann lieber irgendwie anders seine Farbe auf Leinwände, dass es trotzdem irgendwie cool aussah. Was den Über-Maler Gerhard Richter übrigens mal zu der Bemerkung hingerissen hat, dass es heute wieder ziemlich lange dauern würde, den Stand der Kunst etwa zu Dürers Zeiten wieder zu erreichen. Aber darum geht es hier nicht.

 

 

Eigene Wege führen immer erst mal ins Gebüsch – und dann ins Freie

 

Es ist ganz einfach: Für Leute, die neue Wege gehen und Dinge schaffen wollen, die es so noch nicht gab – für die gibt es keine Lehrbücher. Denn: In denen kann ja nur drin stehen, was es bis dahin schon so alles gab und wie man genau das am besten hinkriegt. Ein wahrer Künstler, dem man ein Lehrbuch über den „kreativen“ Umgang mit Rost in die Hand drückt, wird sagen: „OK, danke, jetzt weiß ich, was ich nicht machen muss.“ Darum fand ich mein Rost-Buch zwar schön, aber eben auch uninteressant.

 

Ich glaube, man kann sagen: Ein Jackson Pollock etwa hat vermutlich nicht mit seinen Tropfenbildern angefangen, weil er Michelangelos Fresken in einem Buch gesehen hat und nachmachen wollte – und das irgendwie nicht hinbekam. Ein Picasso hat nicht plötzlich den Kubismus vom Zaun gebrochen, weil er vorher einen Prachtband über die Zentralperspektive der Renaissance gelesen hat. Und ein Andy Warhol hat vermutlich nicht auf Kupferplatten uriniert, um sie dann als „Piss Paintings“ zu vermarkten, weil er das in einem Ferienkurs über „Töpfern in der Toscana“ so gelernt hat (obwohl ich mit den Feinheiten der dortigen after-work-Parties nicht so vertraut bin). Und die Reihe der Beispiele ist unendlich.

 

 

Wer nur nachmacht, wird vergessen

 

Letztlich, und jetzt kommt die Take-home-Message, werden Künstler in aller Regel nicht berühmt, weil sie etwas besonders gut machen (das erledigen die Epigonen danach) oder anderen Leuten nacheifern. Auch nicht, weil sie sich Ohren abschneiden. Sondern weil sie irgend etwas als erstes machen. Etwas neu oder aus einer anderen Perspektive sehen, die bis dahin niemand eingenommen hatte. Weil sie also, um hier einmal ein eher kunstfremdes Wort zu verwenden: innovativ sind.

 

Sehen Sie die Parallele? Von der Kunst kann man als Firmenlenker eine Menge lernen, wenn man nur einmal die Mauer einreißt, die Museen gerne darum ziehen. 

 

Die Quintessenz all dessen, was ich hier vor Ihnen ausgebreitet habe, ist daher ganz simpel: Wenn Sie da, wo Sie sind, nicht mehr weiter kommen, wenn Sie das Gefühl haben, dass es Zeit wird, etwas Neues auszuprobieren: Greifen Sie NIEMALS zu Lehrbüchern. Gucken Sie nicht auf das, was es schon gibt. Setzen sie das einfach voraus.

 

Lassen Sie Ihre Leute frei denken und kreativ sein. Denn ins Museum – im übertragenen Sinne – kommen Sie nur, wenn Sie etwas machen, an das vorher noch niemand gedacht hat. Und das geht nicht mit alten Rezepten. Niemals.

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