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Der Kunde ist König? Nein. Du bist König.

Neulich habe ich wieder einen dieser Sprüche gelesen, bei deren Anblick man sich plötzlich so alt fühlt wie eine über Monate im Kühlschrank vergessene Kartoffel. Einen dieser Sprüche, die mittlerweile so fadenscheinig sind, dass man durch sie nicht einmal dicke, träge Sommerfliegen aus dem Wohnzimmer raushalten könnte, wären sie ein Stück Stoff, das man vor die Gartentür spannt: So oft sind sie in den vergangenen Jahrzehnten mürbe geklopft worden. Gefunden habe ich das Corpus Delicti auf einer Webseite, die ansonsten eigentlich gar nicht so übel war – nette Fotos, interessante Dienstleistung, offensichtlich kompetente, sympathische Anbieterin. Aber dann, gähn: „Bei uns stehen Sie, der Kunde, im Mittelpunkt!“

 

Dieses Ding kommt gleich für mich nach dem unbestrittenen Spitzenreiter geriatrischer Interessentenüberzeugungsversuche: „Mit unseren XY Jahren Erfahrung sind wir für Sie der optimale Partner“ – statt XY setzen Sie bitte ein, was Sie wollen: 3, 23, 512, es ist völlig egal. Sätze wie diese sind so No-Go wie die New Yorker South Bronx in den 1980ern.

 

Ich hoffe, Sie sind jetzt erschüttert. Falls ja, lesen Sie bitte trotzdem weiter. Vielleicht gerade dann. Weil, es ist ja so: Als Kunde im Mittelpunkt eines Anbieters von Egalwas zu stehen, das kann man heute so gewiss voraussetzen wie zumindest moderate Englischkenntnisse bei der britischen Königin. Sogar beim letzten Bauchladen-Typen, beim hintersten Hinterhof-Spediteur finde ich mich als Kunde im Zentrum allen Tuns. Gut, als schätzenswerte Person, als liebenswerter Mensch an sich jetzt vielleicht nicht unbedingt. Aber als Kunde eben doch. Weil ich nämlich der bin, der mit dem Geldscheinbündel winkt. 

 

Früher, im digitalen Präkambrium, ja, da mag es hier und da vielleicht noch angegangen sein, dass man auch mit einem noch so dicken Stoß von 100 Mark-Scheinen an Arschlöcher geraten konnte, die einem dann einen Apfel als ein Ei verkauft haben. Weil niemand außer ein paar Leuten im engeren Bekanntenkreis des Betrogenen von der Einkaufspanne erfuhr, die zudem peinlich war, so dass man sie auch nicht auf jedem Marktplatz hinausposaunte. So dass sich Schwarze Schafe, sofern man ihnen die Fellfarbe nicht ohnehin gleich ansah, entsprechend langsam herumsprachen. 

 

Aber heute, wo man selbst seine Büroklammern nur noch bei Leuten kauft, deren Internet-Profil mindestens eine halbe Million zufriedener Kunden und fünfeinhalb Sterne aufweist? Come on. 

 

 

Fünf Euro ins Floskelschwein machen nicht reich

 

Und selbst wenn: Über eine entsprechende Vertragsgestaltung und vorsichtigshalbrige Verschriftlichung vereinbarter Leistungsversprechen lässt sich durchaus sicherstellen, dass ich als Kunde auch bei Leuten, die noch ein gutes Stück hinter Hinterhof-Spediteuren kommen, die Aufmerksamkeit erhalte, die ich verdiene. Bei gewissen Autohändlern beispielsweise. Ich weiß das mittlerweile, weil ich da bei einem Betrieb in meinem Wohnort ein durchaus anständiges Lehrgeld gezahlt habe – obwohl sicher auch bei dem der Kunde im Mittelpunkt stand.

 

Der Kunde als Mittelpunkt der Geschäftswelt also: geschenkt – fünf Euro ins Floskelschwein und Schwamm drüber.

 

Nun ist es aber so, dass man sich hüten sollte, Selbstverständlichkeiten auf seine Webseite zu schreiben – zumindest an prominenter Stelle. Diese Weisheit habe ich von meinem großen, leider früh verstorbenen Mentor Wolfgang Quickels, den ich einmal bei einer Tageszeitung im Ruhrpott kennengelernt habe, für die ich als ehemaliger Journalist trotz Promotion im Sack mal gearbeitet habe. Wolfgang meinte eines Tages zu mir: „Schreibe niemals unter ein Bild, was man darauf ohnehin sieht. Das ist langweilig.“ Das ist über 20 Jahre her. Ich habe mich seither immer daran gehalten. 

 

 

Selbstverständliches ist langweilig und macht misstrauisch

 

Die Hölle waren für ihn die üblichen Scheckübergabe-Fotos, auf denen zum Beispiel Klaus Müller vom Förderverein des Kleingartens ‚Die Zwiebelfreunde‘ Hildegard Bruns-Klammbeutel vom Kindergarten Bullerbü eine Spende überreicht. Und dann steht drunter: „Klaus Müller vom Förderverein Kleingarten ‚Die Zwiebelfreunde‘ übergab einen Scheck in Höhe von 207,83 Euro an den Kindergarten Bullerbü, vertreten durch Hildegard Bruns-Klammbeutel“. Und im Fließtext dann im Wesentlichen noch mal exakt dasselbe. 

 

„Diese ewigen Scheck-Pappen will doch niemand mehr sehen“, so Wolfgang. Lieber scheuchte er die Spender auf das Objekt, das von dem Geld gekauft worden war, etwa eine neue Rutsche für den Spielplatz. Oder zeigte gleich die darauf tobenden Kinder. So, dass das Bild eine zusätzliche Info lieferte, die nicht im Text steht: Geld für glückliche Kids halt.

 

Aber ich schweife ab. Jedenfalls: Dieses Credo kann man getrost auf Webseiten übertragen, nur leicht abgewandelt: Schreibe nichts, was sowieso selbstverständlich ist. Denn es ist ja so: Was alle eh wissen ist nicht nur gähnend langweilig (wie der andere Klassiker mit den „XY Jahren Erfahrung“ in Sachen Kanalsanierung, Zahnersatz oder Klöppeldeckenklöppeln). Wenn mir jemand etwas Selbstverständliches zusichert, werde ich misstrauisch. Wieso schreibt der, dass ich bei ihm im Mittelpunkt stehe? Ist das für den denn so ungewöhnlich? Niemand, absolut niemand würde schreiben „Kunden sind mir völlig egal.“ Auch wenn das Paragraph Eins Komma Null Null seiner Firmenphilosophie wäre.

 

 

Wahre Experten müssen sich nicht anbiedern

 

Drehen wir die Schraube ruhig noch ein wenig weiter. Vor einigen Jahren ist mir eine wirklich üble Geschichte passiert. Ich hatte einen langen Artikel für einen großen Industriekunden geschrieben. Alle schwebten vor Zufriedenheit, alle technischen und inhaltlichen Freigaben waren da, selbst die Redakteurin des Magazins, in dem das Ding erscheinen sollte, freute sich auf das Manuskript, obwohl die Deadline wirklich knapp war. Aber sie hatte Vertrauen in mich, ich hatte schon oft für die Kollegen dort geschrieben, alles easy und pünktlich. Wie man das so macht.

 

Und dann brauchte es irgendwann nur noch ein einziges, finales OK. Das allerdings von einem offenbar wichtigen Chef. Und der trommelte alle zusammen, warf als erstes etwas jovial in die Runde, dass er leider noch keine Zeit gehabt habe, den Artikel zu lesen, aber er habe sich die Zwischenüberschriften angesehen und er finde, da müsse man irgendwie einen ganz anderen Schwerpunkt setzen. Und alle nickten.

 

 

Wie ein Hai mit Brokkoliauflauf

 

Was blieb, war das Gefühl: Scheiße, alles falsch gemacht. Dabei gehen über 90% meiner Projekte bei meinen Kunden ohne jede bemerkenswerte Änderung durch. Wer sich mit technischen Texten auskennt, weiß: Mit derselben Wahrscheinlichkeit trifft man eine Fliege mit einem rostigen Dartpfeil. Ein einziges dummes Feedback genügte, noch dazu von jemandem, der sich mit meiner Arbeit so sehr auseinander gesetzt hatte wie ein weißer Hai mit veganem Brokkoliauflauf: Danke, das wars. Ich werde mir mein Essen demnächst bei einer Tafel holen müssen. Wie kann ich das wieder gut machen? Die Scharte auswetzen? Kurz: Ich habe gute Miene zum bösen Spiel gemacht und mich anschließend schlimmer aufgeregt als Louis de Funès jemals.

 

Quittung: An dem Abend bekam ich üble Bauchschmerzen, die drei Tage nicht weggingen, bis meine Freundin mich zum Hausarzt fluchte und dieser nach einem kurzen Händedruck merkwürdig still wurde und zum Telefon griff, um mich in eine Klinik einliefern zu lassen. Mir war, lachen Sie jetzt nicht, die Galle geplatzt. Während der OP, gegen Mitternacht, klingelten die Docs an meinem offenen Bauch ihrerseits ihren Chef raus. Als ich von der Intensivstation runter war – um den Spaß so richtig rund zu machen, hatte ich mir auch noch ein kleines Nierenversagen gegönnt –, setze der sich an mein Bett und sagte: „Demnächst gehen Sie bitte früher ins Krankenhaus. Da war alles nur noch Matsche“ (O-Ton). Seitdem kann ich Leute im Schwimmbad mit schicken Bauchnarben erschrecken.

 

 

Eine kleine Akzentverschiebung 

 

Gut – der Mann schloss eigentlich auch aus, dass das eine mit dem anderen zu tun hatte. Aber für mich war das trotzdem ein Wink mit dem Zaunpfahl. So eine Gallenblase eitert ja nicht in einem herum, nur weil sie mal Lust auf sowas hat. Heute bin ich mir jedenfalls sicher, dass mir eine ganz leichte Akzentverschiebung in meinem Kundenverhältnis unterm Strich ganz gut getan hätte. Sowas will ich nie wieder erleben.

 

Ich fasse es mal so zusammen: Nicht der Kunde ist König. Du bist König.

 

OK, das klingt auf den ersten Klang befremdlich, als würde Gimli sich für Legolas halten. Aber es ist doch so: Heute ist man als hoffentlich gefragter Marktteilnehmer im Web für mögliche Kunden so transparent wie Frühlingsluft. Wer sich dann ausgerechnet Sie als Lieferanten oder Dienstleister aussucht, der tut das aus einem Grund: Weil er der Ansicht ist, dass genau Sie der, die, das Richtige für den Job sind. Damit dürfen Sie sich – zumindest auch! – als König fühlen. Als König in Ihrem Reich, der mit dem König eines anderen in Beziehungen tritt – zum beiderseitigen Nutzen.

 

Das bedeutet natürlich nicht, dass Sie zum arroganten Schnösel werden sollen, der Anderen nur zuhört, wenn sie seinem Hofmarschall zuvor Seide, Schmuck und Elefanten überreichen und Bücklinge machen. 

 

Im Gegenteil! Bei allem, was Sie tun, sollten Sie immer versuchen, zu einem König zu werden, dessen Reich so sehr blüht und gedeiht, so dass sich das herumspricht. Damit andere Könige auf Sie aufmerksam werden.

 

Eigentlich ist das sogar anstrengender, als nur den Kunden in den Mittelpunkt zu stellen wie der Hinterhof-Spediteur um die Ecke. Das ist leicht. Aber in seinem Business so gut zu werden, dass Sie von Anderen als der König in Ihrer Disziplin wahrgenommen werden, den man bei einem wichtigen Projekt an seiner Seite haben möchte, das ist richtig harte Arbeit. 

 

 

König sein ist harte Arbeit. Aber es befreit.

 

Ich hatte den Fehler gemacht, mich bei meinen Kunden anbiedern zu wollen – darum ist mir die Galle explodiert, als irgendein Ahnungsloser, vermutlich nach einem schlechten Mittagessen, meinte, seiner Pressestelle an den Ohren ziehen zu müssen. Weil man das als Chef vielleicht mal so gemacht hat, als er sein Handwerk, nun ja: gelernt hat.

 

Nach über 25 Jahren Jahren Erfahrung in dem Job ;-) wäre die richtige Antwort gewesen: Danke für das Feedback. Hier und hier haben Sie natürlich recht, aber das, was da auf Ihrem Schreibtisch liegt, ist aus meiner Sicht immer noch die bestmögliche Lösung. Und zwar aus folgenden Gründen: (hier dann die lange Liste mit den Gründen einsetzen). Wenn Ihnen das nicht gefällt, gut, schreiben Sie’s halt um. Ich mache das auch sehr gerne für Sie, aber das kostet leider. Rechnung kommt dann. Danke für die gute Zusammenarbeit. Dann hätte der Chefchirurg vielleicht im Bett bleiben können. 

 

König zu sein ist harte Arbeit. Aber es ist sehr befreiend, seine Leistung auch einmal aus diesem Blickwinkel zu sehen.

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